Preußisches Hofzeremoniell im Kontext der europäischen Hofkultur

Ob Audienzen beim Monarchen, die tägliche Mittagstafel, der Empfang von fremden Fürsten und Gesandten, Vermählungen von Mitgliedern des königlichen Hauses oder die Inthronisierung eines neuen Monarchen – jegliche festliche und alltägliche Handlung an den Höfen der europäischen Monarchien folgte einem detaillierten Zeremoniell, das den Handlungsablauf und die Interaktion der beteiligten Personen bestimmte. In seiner Funktion als symbolisches Kommunikationsmittel und mit Hilfe von normierten Gesten, Kleiderordnungen, Rangfolgen u. a. drückte das Hofzeremoniell sozialen Status und Machtbeziehungen innerhalb der Hofgesellschaft sowie gegenüber der internationalen Fürstengesellschaft aus.

Trotz der Allgegenwärtigkeit und Kontinuität zeremonieller Handlungen erfuhr das Hofzeremoniell in Preußen erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine gewisse Standardisierung durch die Publikation von Rangreglements und die Wiedereinrichtung eines Oberzeremonienmeisteramts. Dies war höchstwahrscheinlich in der Annahme der Kaiserwürde begründet; zudem erhöhten sich Quantität und Qualität zeremonieller Handlungen am preußisch-deutschen Hof durch Wilhelms II. neobarocken Herrschaftsstil. Doch bereits unter dem wenig Zeremonie-affinen Friedrich Wilhelm III., der sicherlich noch von der aufklärerischen Ritualkritik beeinflusst war, war die Inszenierung durch zeremonielle Handlungen am preußischen Hof unverzichtbar. Dies lag vor allem an der Einbettung des preußischen Hofes in die internationale Hofkultur, deren Gepflogenheiten der einzelne Hof bis zu einem gewissen Maße gerecht werden musste, um seine Rolle und Legitimität unter den Höfen zu sichern und zu stärken.

Die Entstehung und leitenden Prinzipien der preußischen zeremoniellen Praktiken des 19. Jahrhunderts müssen daher im Kontext der internationalen Fürstengesellschaft beurteilt werden. Welchen Vorbildern folgte die preußische Krone in Fragen von Zeremoniell und Rangordnung und wer waren ihre Konkurrenten? Wie veränderte sich dies im Lauf des Jahrhunderts? Welche Konflikte hinsichtlich des Zeremoniells gab es zwischen den Höfen? Zur Beantwortung dieser Fragen sind insbesondere Momente der Aushandlung von höfischem Zeremoniell auf der internationalen Bühne, wie z. B. beim gegenseitigen Empfang von Gesandten und beim Zusammentreffen von Fürsten bei Krönungsfeierlichkeiten oder Vermählungen, aufschlussreich. Auch die Praxis des Gabentauschs zwischen Höfen und der Ordensverleihung an fremde Monarchen und hohe Amtsträger verdient in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit. Es gilt jedoch auch herauszufinden, über welche Kanäle sich die preußische Krone Wissen über das an anderen Höfen praktizierte Zeremoniell verschaffte, wie sie dieses beurteilte und für sich nutzbar machte. Bei alldem ist das Spannungsverhältnis zwischen Bemühungen um eine gewisse interhöfische Einheitlichkeit einerseits und das Streben nach Einzigartigkeit durch Pflege und Schaffung eigener spezifischer Traditionen andererseits hervorzuheben.

Die Edition präsentiert sowohl Ablaufprogramme als auch behördliche Korrespondenzen zu ausgewählten zeremoniellen Anlässen und Rangkonflikten, die die Entwicklung und Entstehungsmechanismen des preußischen Hofzeremoniells zwischen 1786 und 1918 illustrieren. Darüber hinaus werden auch Berichte preußischer Gesandter sowie Auszüge aus dynastischen Korrespondenzen ediert, die sowohl Beurteilungen ausländischer Hofkultur enthalten als auch Konkurrenz und Transferprozesse zwischen dem preußischen und anderen deutschen und europäischen Höfen veranschaulichen.

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, IX. HA, SPAE, I
                                Nr. 1758, Public Domain Mark 1.0
Festprozession nach der Krönung Wilhelms I. in der Schlosskirche von Königsberg am 18. Oktober 1861 (ca. 1865)